(Wien, 4. Mai) Wahlprogramme richten sich an Menschen, die an der Politik besonders interessiert sind. SPÖ und Grüne legen Wahlprogramme vor, in denen sie zusammentragen, was gut und schön ist. Gleichzeitig tun sie so, als ob sie mit der Politik der Europäischen Union bisher nichts zu tun gehabt hätten. Ein kritischer Blick auf die Europa-Wahlprogramme der SPÖ und der Grünen. Von Walter Baier, Koordinator von Transform Europa.
Die SPÖ schreibt folgenden schönen Satz in ihr Europa-Programm: „Wir sprechen uns auf allen Ebenen gegen die neoliberalen Instrumente und Abkommen aus. “ Wow!
Tatsächlich haben aber die Sozialdemokraten alle wesentlichen „neoliberalen Instrumente und Abkommen“ wie den Fiskalpakt, der die Staaten zu ständigen Einsparungen im Sozialstaat und in den öffentlichen Diensten verpflichtet, mit beschlossen. Im Europaparlament, im Europäischen Rat und in den nationalen Parlamenten, wie in Österreich.
Sinnvoller und ehrlicher Weise müsste der Satz also lauten: Wir, die Sozialdemokraten haben uns auf allen Ebenen für die neoliberalen Instrumente und Abkommen ausgesprochen. Wir entschuldigen uns bei unseren Wählern und Wählerinnen und würden sie zurücknehmen, wenn … — ja, wenn wir sie nicht sogar in die Verfassungen der Staaten hineingeschrieben hätten, um eine Rücknahme möglichst unmöglich zu machen.
Derselbe Gedächtnisschwund zeichnet das Europaprogramm von Ulrike Lunacek aus. Besonderes Anliegen wäre ihr, liest man, die Demokratisierung der EU. Doch abgestimmt hat sie gegenteilig. Auch sie hat in einer gemeinsamen Entschließung mit Sozialdemokraten, Konservativen und Liberalen den Fiskalpakt unterstützt. Schon vorher wurde Ende 2011 – unter Ausnutzung der allgemeinen Panik über die Finanzkrise – die Europäische Kommission, das bürokratische Machtzentrum der EU, mit autoritären Sondervollmachten zur Durchsetzung der Sparpolitik ausgestattet.
Die Europäische Kommission hat seither die Möglichkeit, automatische Sanktionen gegen Staaten in Kraft zu setzen, nicht nur, wenn sie gegen die Defizitgrenzen verstoßen, sondern auch, man staune, wenn sie durch zu hohe Lohnstückkosten die „Wettbewerbsfähigkeit“ schwächen. Diesem autoritären Eingriff in die Wirtschaftspolitik haben die Grünen und auch Ulrike Lunacek im Europaparlament ihre Zustimmung gegeben. Wie ist die Verwandlung der Europäischen Kommission in eine autoritäre Wirtschaftsregierung mit mehr Demokratie zu vereinbaren?
Dass sie sich für ein soziales Europa und „für die Zügelung der Finanzmärkte“ einsetzen wollen, versprechen die SPÖ und Grüne in ihren Programmen. Sie hätten dazu in den vergangenen fünf Jahren Gelegenheit gehabt. Das Kernstück der Finanzmärkte, die Europäische Zentralbank übergehen sie in der Hoffnung, dass sich die Leute eh‘ nicht auskennen.
Tatsächlich ist die Europäische Zentralbank kraft ihres Statuts jedweder demokratischen Kontrolle und Transparenz entzogen und hat sich zu einem technokratischen Machtzentrum der EU verwandelt, das einzig und allein dem reibungslosen Funktionieren der Finanzmärkte dient. Warum macht man das nicht zum Thema des Wahlkampfes, wenn’s doch um Demokratie geht?
Die Frage, die sich mir beim Lesen der Wahlprogramme dauernd gestellt hat, lautet: Wie lange glauben die Parteien, ihren Wählern und Wählerinnen zumuten zu können, dass sie in ihren Programmen das exakte Gegenteil von dem versprechen, was sie in der Praxis tun?
Für alle Interessierten, die das Abstimmungsverhalten „ihrer“ Abgeordneten überprüfen wollen: www.votewatch.eu