Das war der Gründungskonvent

Wie Trennwände zwischen Einzelveranstaltungen beseitigt werden und etwas Größeres daraus wird

Ein Bericht von Wolf Jurjans für die Volksstimme unter Verwendung von Zitaten einiger AkteurInnen.

1. März 2014, um neun Uhr mitten in Simmering: Hier, im Wiener Arbeiterbezirk, der seit 1945 nur sozialdemokratische Bezirksvorsteherinnen kennt, soll zusammenfinden, was für ORF-Politberater nicht zusammengehört, was sich für Visionslose vor allem auch nicht gehört. Eine Wahlallianz von KPÖ, Piraten, Wandel und Parteiunabhängigen will eine Alternative zu einer Entwicklung eröffnen, die bald – nicht nur – Simmeringer Realität sein könnte. Zwischen Gasometer und Zentralfriedhof strebt die FPÖ die Mehrheit an.

Der Weg zum Tagungsort über die Simmeringer Hauptstraße, im Volksmund »little istanbul« genannt, ist gesäumt von Industrieruinen und Baustellen. Die Architektur des Foyers im Jufa-Hotel nimmt vorweg, was die Tagungsteilnehmerinnen politisch leben wollen. Das Glasdach des Atriums verbindet unterschiedliche Bausubstanzen zu einem kommunikativen, offenen Raum, der sich am menschlichen Maßstab orientiert. Die nebeneinander liegenden Versammlungsräume der Parteien sind noch getrennt, die Registrierung der Delegierten ist in vollem Gange. 300 Personen wurden erwartet. 400 werden es zum Schluss gewesen sein. Die Eingangstüren werden geschlossen. Die Allianzpartner beginnen separiert ihre internen Beratungen.

Bei der KPÖ-Parteikonferenz stellt Mirko Messner noch einmal klar, dass das Ziel der Allianzteilnehmer nicht die Aufgabe der eigenen Identität ist, sondern das Gegenteil: Die Unterschiedlichkeit der eigenen Geschichte, der Kultur, des Wissens und der Erfahrungen bildet den Humus, aus dem das Projekt erwachsen soll. Tage- und nächtelanges Vergleichen der programmatischen Vorstellungen hat eine Vielzahl von Schnittmengen ergeben, die gemeinsam bearbeitet werden wollen.

Es ist der unterschiedliche Blick auf das gemeinsame Ganze, der neue Sichtweisen eröffnet. Ein politischer Raum, der über ein reines Zweckbündnis hinausgeht, kann mit Leben erfüllt werden, will sich Unorganisierten und Graswurzelaktivisten öffnen, soll Platz schaffen für selbstbestimmtes, selbstbewusstes Handeln, das sich vom neoliberalen Einheitssumpf des Kaputtsparens, des Entmündigens, des Überwachtwerdens nicht mehr vereinnahmen lassen will.

Melina Klaus bringt einen Bericht über die Enstehung der Allianz, skizziert die Stufen zum Konsens, Verfahrensweisen und inhaltliche Positionen. Waltraud Klackl bringt die Situation der linken und progressiven europäischen Kräfte in ein Brechtsches Bild. Angesichts eines heraufziehenden Sturms ziehen verängstigte Fischer ihre Boote vom Strand, um sie vor der Zerstörung zu schützen. Die Mutigen fahren hinaus ins offene Meer und haben die Chance, die Wellen zu reiten und so zu überleben. Eine Parabel, die Syriza in Griechenland in hoffnungsvolle politische Praxis umgesetzt hat. Vertreter der deutschen Partei Die Linke und der Partei Syriza gratulieren, lassen wissen, dass dieses österreichische Experiment im befreundeten Ausland mit großem Interesse beäugt wird.

Dann die Diskussion: Solidarisch bei allem Pro und Kontra. Die Abstimmung fällt bei wenigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen einen klaren Beschluss: die KPÖ ist dabei. Dasselbe Ergebnis – Zustimmung zur Wahlallianz [bzw. dem Programm] –, hört man aus den anderen Sälen, auch beim Wandel und den Piraten.

Die erstgereihten, parteiunabhängigen Spitzenkandidaten der Wahlallianz […] stellen sich der Akzeptanzwahl und beantworten Fragen wie in den anderen Einzelversammungen auch. Über die Kandidatinnen auf der KPÖ-liste – unter ihnen mehrere Unabhängige, zwei griechischstämmige – wird abgestimmt. Der Vorschlag des Bundesvorstand, Waltraud Klackl, Vorstandsmitglied der Europäischen Linken, als Erstgereihte der KPÖ für die liste von Europa anders zu nominieren, wird angenommen.

Gegen Mittag

GruKo_small2

Die Parteien haben ihre geschlossenen Treffen beendet. Die Schiebetüren, die die Versammlungsräume bisher voneinander trennten,werden zur Seite gefahren. Erste gemeinsame Handlung: Das Essen. Dann der Gründungskonvent. Zusätzliche TeilnehmerInnen sind unterdessen eingetroffen, neugierig, engagiert, überrascht von der großen Zahl der Anwesenden. Agnes Peterseil vom Wandel, Claudia Krieglsteiner von der KPÖ und Bernhard Hayden von den Piraten begrüßen und leiten durch den Nachmittag.

Die Statements der Parteisprecher zu Beginn des Konvents; Fayad Mulla für den Wandel: »Es geht immer um Verteilung von Chancen, Macht, Informationen und Ressourcen. Darin sind wir uns alle einig und genau dort müssen wir auch ansetzen. Wir werden zwar nicht von heute auf morgen die Welt verändern, egal wie viele Stimmen wir am 25. Mai bekommen, aber je mehr es werden, desto lauter wir unsere Stimme, die sagt: Demokratie, Wirtschaft und Solidarität gehen anders! Alternativlos existiert nicht mehr!«

Nach ihm KPÖ-Bundessprecher Mirko Messner: »Durch die EU geht ein tiefer Riss. Dort die mit den Banken und Konzernen, mit den Reichsten verschwägerte Politik, hier die Menschen, die sich gegen Armut, Prekarisierung, Erwerbslosigkeit, gegen die Zertrümmerung des Sozialstaats, gegen Überwachung und Militarisierung wehren. Europa anders befindet sich hier, auf der richtigen Seite des Widerspruch, auf der Seite des demokratischen, sozialen und kulturellen Widerstands – und das ist eine seiner Stärken.«

Und abschließend Christopher Clay von den Piraten: »Die Politik versteht die Welt nicht mehr und schafft es nicht, im Machtkampf für uns alle Partei zu ergreifen und große Visionen zu wagen. Und: Die Fragen, die die Piraten aufwerfen, reihen sich nahtlos ein in die, die der Wandel, die KPÖ und tausende Unabhängige thematisieren. Es geht um unfair verteilte Macht – aufgrund von Finanzvermögen, verknöcherten Hierarchien und Geburtsmerkmalen. Und: Wir alle wissen, dass es anders sein kann.«

Spätestens jetzt, nach den Ansagen der Parteisprecher, wird auch dem & der letzten klar: Hier ziehen tatsächlich drei sehr unterschiedliche Gruppen an einem Strang, weil sie sich der Ernsthaftigkeit des gemeinsamen Anliegens bewusst sind und sich diese Gemeinsamkeit nicht nehmen lassen.

Auf die internationalen Grußbotschaften von (via Bildschirm) Alexis Tsipras (SYRIZA) – »die Linke muss vereinen, nicht trennen; Allianzen sind keine Addition, sondern Vervielfachung von Kräften« – und Julia Reda (Piraten Deutschland), die das Wahlbündnis und seine Anliegen in den Kernpunkten unterstützt, sowie Grußworten von Helmut Scholz und Tobias Pflüger von der deutschen Partei Die Linke (alle nachzusehen und nachzuhören auf europaanders.at) werden Programm, Fundraising sowie die Kampagne zur Sammlung der Unterstützungserklärungen vorgestellt.

kandidat_NL

Und dann, letztlich, wird das Ergebnis der Abstimmung über die zwei an der Listenspitze Kandidierenden bekanntgegeben. Der EU-Mandatar Martin Ehrenhauser (Platz 1, mit 79 % der Stimmen) und die Kulturarbeiterin Ulli Fuchs (Platz 2) haben es geschafft. Ulli Fuchs in ihrer Antrittsrede: »Europa anders ist die Alternative für alle, die Nein sagen zu einer neoliberalen und undemokratischen EU, die aber Europa auch nicht dem erstarkenden Nationalismus und Rechtspopulismus überlassen wollen«.

Martin Ehrenhauser, parteilos, für viele die längste Zeit ein unbeschriebenes Blatt; für die Allianz-Aktivistinnen seit Wochen ein Kollege, der vor keiner Aufgabe zurückschreckt und – pendelnd zwischen Brüssel und Wien – sich für keine, auch nicht für zeit- und nervenfressende Knochenarbeit, zu gut ist. Und der noch vor der Wahl erklärt hat, dass er auf jeden Fall in und mit der Allianz arbeiten will – ob als Koch oder Kandidat. Oder als Abgeordneter, der sich dem Konsens der Wahlallianz verpflichtet fühlt, und sich als Türöffner für Initiativen versteht, die in der Allianz ausgehandelt werden. Er prägt einen Begriff dafür: partizipativer Abgeordneter.

Und sein Resümee in einem Satz: »Die primäre Aufgabe der Politik ist, dass Informationen, Chancen, Vermögen und Ressourcen gerecht verteilt werden. Mit diesem Anspruch gehen wir in die Wahl.« Der laute Applaus am Schluss, er gilt allen, die da sind. Die Boote der Wahlallianz sind draußen.

Am Tag darauf

Noch voll unter dem Eindruck des gelungenen Samstags memoriere ich: Wenn so ein Ereignis mit solcher allgemeiner Entspanntheit und Leichtigkeit ablaufen kann, kann man sich ungefähr vorstellen, welche Arbeit da im Vorfeld geleistet worden ist. Auch der Übergang von den Teilkonferenzen zum Konvent hatte sehr gut geklappt, ohne Brüche und Verstörungen, im Gegenteil: Die Beseitigung der Trennelemente zwischen den Einzelversammlungen, ob nun bewusst inszeniert oder zufällig, war eines der stärksten Bilder dieses Ereignisses.

Dann, die Zeitungen und das Netz durchblätternd stelle ich fest: So gut wie alle, die das großartige Ereignis überhaupt registrieren, übernehmen die kurze APA-Meldung über die Konstituierung der Allianz. Etwas Eigenes fällt ihnen nicht ein. Außer der »Presse«, die in ihre Kurzmitteilung aber gleich eine Falschmeldung einbaut.

Ich nehme an, die sind einfach überfordert; Europa anders passt einfach nicht in den Rahmen, an den sie sich angepasst haben. Und die Unangepassten waren noch nicht am Wort. Europa anders erteilt es ihnen. Sie brauchen es nur anzunehmen.