(15. Mai) Die österreichische Linke ist seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten in einem ziemlich traurigen Zustand. Dessen Ursache und Entwicklung darzulegen, fehlt hier der Platz. Ich möchte hier zunächst lediglich die für meinen Argumentationsgang wichtigsten Beteiligten in aller Kürze – und in abnehmender gesellschaftlicher Bedeutung – anreißen: Ein Kommentar von Martin Birkner, der vor kurz sein neues Buch „Lob des Kommunismus 2.0“ veröffentlichte.
1. Die Sozialdemokratie und ihre Vorfeldorganisationen schaffen es nach wie vor, Linke in ihrem Einflussbereich, wenn nicht sogar in ihren Institutionen, zu halten. Dies funktioniert einerseits über den Verweis auf noch größere Übel (allen voran die FPÖ) und oder jenen auch mangelnde Alternativen – und ist seit Jahrzehnten ein Haupthindernis für die Herausbildung eines radikalen kapitalismuskritischen Projekts auf repräsentativ-demokratischer Ebene.
2. Die Grünen treten zwar in einigen Punkten als glaubwürdige Alternative zur sozialdemokratischen Politik auf, ihre Gier nach Regierungsverantwortung und die damit konstitutiv verbundene Absage an eine grundlegende Transformation der Gesellschaft lässt sie aber ebenso bestenfalls als kleineres Übel erscheinen; und dieser Schein trügt nicht. Allerspätestens mit der Zustimmung zum Europäischen Stabilitätsmechanismus sind die Grünen zum verlässlichen Partner des Kapitals geworden.
3. Weite Teile der (post)autonomen Linken sind ebenfalls kaum imstande, ihre gut passenden Scheuklappen abzuwerfen. Sie konzentrieren sich oft Single-Issue-Themen, in denen gute und wichtige politische Arbeit geleistet wird (Antifa, Antirassismus, Ernährungssouveränität, um nur einige zu nennen), verabsäumen aber, ihrer Aktivismus strategisch mit anderen Kämpfen und Subjekten in Beziehung zu setzen. Dies gilt zum Teil auch für unorganisierte AktivistInnen in sozialen Bewegungen, die naturgemäß den Zyklen dieser Bewegungen stärker unterworfen sind als organisierte Linke.
4. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Netzwerke und linke NGOs teilen grotesker Weise mithin das Problem der (Post)Autonomen, lösen es jedoch Einerseits durch kontinuierliche Kampagnenarbeit (die sich oft in Appellpolitik erschöpft – Petitionen, Petitionen, Petitionen …), andererseits durch Bündnisarbeit mit anderen NGOs oder auch Gewerkschaften. Letzteres führt, beispielsweise bei Attac!, dazu, dass der Horizont der Sozialpartnerschaft nicht überschritten werden darf, da mensch sonst die BündnispartnerInnen aus dem ÖGB verlustig gehen. Mit der Konsenspolitik einher geht die tendenzielle Abwendung von sozialen Basisbewegungen und radikaleren Artikulationsformen des Protests.
5. Die Organisationen der radikalen Linken, in Österreich und vor allem in Wien meist mehr oder weniger trotzkistischer Prägung, schaffen es entweder nicht, sich aus dem Bannkreis der SPÖ (mal in der mehr gewerkschaftlichen, mal in der mehr parteiförmigen Ausprägung) zu lösen – oder aber, sie hängen einem Begriff ihres zentralen Kollektivsubjekts – der ArbeiterInnenklasse – an, die den gegenwärtigen Verhältnissen nicht (mehr) adäquat ist, und sind so zur Stagnation verdammt. Internationale Verflechtungen der Gruppen und persönliche Animositäten tun ein Übriges dazu, dass die Schrebergärten klar abgesteckt sind und dies auch so bleibt.
Europa anders! Ist ein Zusammenschluss von KPÖ, Wandel und der Piratenpartei. KritikerInnen von links werfen der Kommunistischen Partei ihre Orientierung ausschließlich „nach rechts“ vor. Diese Kritik scheint zunächst berechtigt: Wem es an einer grundlegenden Überwindung kapitalistischer Verhältnisse gelegen ist, wendet sich wohl weder an den Wandel noch an die Piratenpartei. Erstere stehen ganz klar für eine Reaktualisierung reformistischer Umverteilungspolitik und zweitere stellen zwar wichtige Forderungen im Rahmen bürgerlicher Freiheitsrechte auf, aber der Überschreitung in Richtung Kommunismus stehen beide sicherlich skeptisch gegenüber. Warum aus radikal antikapitalistischer Perspektive „Europa Anders“ dennoch unterstützenswert ist, möchte ich anhand zweier Aspekte darlegen:
Weil eine revolutionäre Partei im 21. Jahrhundert ein Ding der Unmöglichkeit ist und „Europa anders“ einige Schrebergartenzäune der politischen Landschaft links der Mitte niederreißt.
In den letzten Jahren sahen wir vereinzelt soziale Bewegungen, die gar nicht so klein waren (Unibrennt, Refugee-Bewegung, Demonstration „Eure Krise zahlen wir nicht!“), aus denen jedoch weder eine Regruppierung der organisierten Linken hervorgegangen ist, noch eine Erhöhung ihrer nach wie vor marginalen gesellschaftlichen Bedeutung. Auch parteipolitisch sind mit Ausnahme der steirischen und insbesondere der Grazer KPÖ für die Linke kaum Erfolge zu verzeichnen, obwohl die gesellschaftlichen Voraussetzungen – angesichts der Krise und der gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichteten Krisenpolitik – eigentlich der Linken in die Karten spielt. In der organisierten radikalen Linken gab es einige Umgruppierungsprozesse, insbesondere in der in Wien dominanten trotzkistischen Szene drückt sich dies jedoch nicht in einer größeren politischen Stärke, sondern lediglich in der Erhöhung der Zahl der Kleingruppen bei insgesamt wohl gleichbleibenden Stand von AktivistInnen. Offensichtlich schaffen es diese Gruppierungen seit Jahren nicht, zu wachsen, obwohl sie gerade im Schulbereich sehr aktiv sind und dort auch Leute gewinnen. Es gelingt also nicht, AktivistInnen länger in den Organisationen zu halten, was auch aufgrund der starren und antiquierten leninistischen Ideologie nicht weiter verwundert.
Meine eigene politische Position ist, dass grundlegende soziale Veränderungen nur durch die Selbstorganisation im Rahmen von Massenbewegungen ins Werk zu setzen ist. Hierzu gibt es keine Blaupause, selbst den sympathischen Patentrezepten wie „Rätedemokratie“ ist zu misstrauen. Es führt kein Weg dran vorbei, in den jeweils konkreten Situationen dementsprechende Formen der Organisation – und auch Institution – zu finden. Ein Überschreiten des kapitalistischen Horizonts ist dabei untrennbar mit dem der Staatsform verbunden. Sämtliche Varianten der Gesellschaftsveränderung via Machtübernahme im Staat sind historisch gescheitert und ad acta zu legen. Dies bedeutet jedoch nicht, in schlecht-anarchistischer Manier den Staat einfach rechts liegen zu lassen. Auf geraume Zeit hin wird er uns wohl oder Übel noch begleiten, sei es als repressiver Polizeiapparat (dem freilich keinerlei Sympathien entgegengebracht werden sollte), als die mannigfaltigen Institutionen des nationalen Sozialstaates (deren repressive Aspekte genauso zu bekämpfen sind wie ihre erhaltenswerten vor Privatisierungen zu verteidigen) oder die Formen europäischer Staatlichkeit. Radikale, ja revolutionäre Veränderungen anzustreben und auf die Artikulation einer repräsentativ-politischen Linken auf staatlichem Terrain glauben verzichten zu können, ist meines Erachtens naiver Idealismus. Wer nach wie vor auf das Projekt einer revolutionären Partei setzt, wird mit „Europa Anders!“ nichts anfangen können.
Das Problem liegt jedoch, wie ich versucht habe zu beschreiben, nicht im zu wenig radikalen Auftreten der Wahlallianz, sondern in den Vorstellungen einer revolutionären (Avantgarde)Partei, die möglicherweise dem gesellschaftlichen Stand des frühen dem 20. Jahrhunderts angemessen war, heute aber keine Perspektive einer befreienden Umwälzung mehr weisen kann. Die Krise der repräsentativen Demokratie ist dergestalt, dass – so sie das je konnten – Parteien strukturell keine andere Möglichkeit haben, als a) Schlimmeres zu verhindern und b) ein produktives – das bedeutet nicht: konfliktfreies – Verhältnis mit sozialen Bewegungen und fortschrittlichen sozialen Experimenten zu pflegen. Dementsprechend ist eine Formierung einer neuen linken Kraft auf Wahlebene zu begrüßen, last not least weil sich hier Kräfte zusammengefunden haben, denen es sicherlich viel Kraft und Energie gekostet hat, ein solidarisches Miteinander zu erstreiten. Emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung ist eben ein Prozess, bei dem sich die beteiligten (Kollektiv)subjekte auch selbst ändern, oder wie Rudi Dutschke einst richtig sagte: „Politik ohne innere Veränderung der an ihr Beteiligten ist Manipulation von Eliten.“
Im Rahmen der globalen Protestbewegung der Nullerjahre und auch jener der Sozialforen bildete sich innerhalb der „gesellschaftlichen Linken“ ein neuer Ton des miteinander-Umgehens heraus. Nicht mehr das oberlehrerhafte Rechthaben und Überzeugen-Wollen stand im Zentrum der Diskussionen, sondern die Suche nach dem „größten gemeinsamen Vielfachen“, also jenen Punkten, an denen gemeinsam agiert werden kann und die die Bewegung insgesamt voranbringen, ohne die Differenzen zwischen unterschiedlichen Ansätzen zu vereinheitlichen oder gar auszulöschen. Auch wenn der Zyklus der oben genannten Bewegungen inzwischen zu Ende ist, das offene Projekt „Europa anders“ ist doch ein Echo dieser Zeit und ihrer positiven Veränderungen. Dass Organisationen mit völlig unterschiedlichen Traditionen und Demokratieverständnissen sich auf ein derartiges Experiment einlassen, spricht für ein Verlassen eingefahrener Pfade repräsentativ-politischen Handelns. Dieses Verlassen ist angesichts der völligen Blockade des Weiter-Wie-Bisher der etablierten Parteien ein notwendiger Schritt hin zur Öffnung neuer politischer Spielräume. Dass die einst so autoritäre KPÖ dabei so weit geht, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, spricht für die Ernsthaftigkeit des Projekts. Die Zeit nach der Europawahl wird zeigen, ob sie reif ist für ein neues und dauerhaftes Projekt linker organisatorischer Neuzusammensetzung.
Weil „Europa anders“ ein Ausdruck auf die Veränderung der Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse ist, der in die richtige Richtung geht
Ein konstitutives Merkmal linken Denkens und Handelns war und ist die zentrale Bedeutung von Arbeit – sowohl in der Gesellschaftsanalyse als auch in der Ausrichtung der praktischen Politik. Nicht zufällig was der Begriff „Linke“ über weite Strecken des 20. Jahrhunderts in Europa synonym mit jenem der „Arbeiterbewegung“. Nur war das „Revolutionäre Subjekt“ ArbeiterInnenklasse in der Realität kaum jeweils so homogen wie in den Vorstellungen der ParteistrategInnen unterschiedlichster Couleurs. Da aber nicht sein darf, was nicht sein soll, wurde die vielzitierte „Klasseneinheit“ eben von oben hergestellt, durch die Partei – oder eben durch die zum Staat gewordene Partei, unabhängig ob Sozialdemokratie oder KommunistInnen. Dennoch kannten zumindest bestimmte Perioden der sogenannten fordistischen, d.h. auf Großindustrie und Fliessbandproduktion beruhenden, Periode eine relative Vereinheitlichung der Lebens-, Arbeits- und auch Kampfverhältnisse der ArbeiterInnen. Dass zumindest von diesen Prozessen MigrantInnen (damals noch „GastarbeiterInnen“), der Großteil der Frauen, behinderte Menschen und viele andere mehr ausgeschlossen waren, kam in den sozialen Auseinandersetzungen um und nach 1968 ebenso ans Tageslicht, wie die Rolle der Ausbeutung der Natur im Kapitalismus.
Angestoßen durch die gesellschaftlichen Veränderungen von 1968 und danach können wir aber nicht nur eine Multiplizierung sozialer Bewegungen beobachten, sondern auch eine damit eng verbundene Transformation der Arbeitsverhältnisse selbst. Häretische Strömungen der ArbeiterInnenbewegung wie der italienische Operaismus oder die französische Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ erkannten bereits in den 1950er und 60er-Jahren die Bedeutung einer genauen Analyse dieser Transformationsprozesse. Entgegen den an Staat und Partei orientierten Mehrheitsströmungen setzten sie auf eine unmittelbar sich als politisch verstehende Untersuchung dieser Prozesse; und dies nicht aus wissenschaftlichem oder sozialtechnischem Interesse, sondern um unter Einbeziehung der ArbeiterInnen in die Untersuchungen das Verständnis der „Klassenzusammensetzung“ selbst zu einer Waffe im politischen Kampf von unten zu machen.
Diese methodische Grundlage taugt auch heute noch, um die radikalen Veränderungen unserer Arbeitswelt zu verstehen: Flexibilisierung, Prekarisierung, Scheinselbständigkeit, die Rolle der (Autonomie der) Migration, die Veränderung der geschlechtlichen Arbeitsteilung und vieles mehr. Im Umfeld der euromayday-Paraden zum Beispiel, aber auch linker Forschungs- und Zeitschriftenprojekte gab es in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine Vielzahl derartiger Untersuchungen, die bei all ihrer Unterschiedlichkeit doch ein Ziel im Blick behielten: Forschung nicht als positivistische Akkumulation von Wissen zu verstehen, sondern als politisches Instrument zur besseren Ausstattung der Arbeitenden selbst in ihren Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Patentrezepte aus der Garküche des fordistischen Kapitalismus taugen aus dieser Perspektive nur wenig, um diese Veränderungen zu beschreiben und offensive Kämpfe auf der Höhe der Zeit zu führen. Das bedeutet keinesfalls, die nach wie vor existierenden ArbeiterInnen in Industriebetrieben oder auf die Waffe des Streiks zu „vergessen“, sehr wohl aber braucht es eine drastische Erweiterung des Arsenals an Methoden und Kampfformen in der Auseinandersetzung mit dem neoliberalen „Postfordismus“. Dabei haben sich einige Themenfelder herauskristallisiert, die das Potenzial haben, unterschiedliche soziale Auseinandersetzungen mit einander produktiv zu verbinden:
– Der Kampf um die Commons, d.h. um die gemeinsame Nutzung und gegen die kapitalistische Aneingung von Gemeingütern, seien sie materieller oder immaterieller Natur
– Der Widerstand gegen die allgegenwärtige Überwachung und Bespitzelung, die im Rahmen der permanenten Enteignung, Überwachung und Privatisierung des öffentlichen Raumes stark in die Commons-Thematik hineinreicht
– Die Perspektive einer radikalen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, der durch die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit ein Ausmaß erreicht hat, das selbst unter Abzug des riesigen „umweltvernichtenden Anteils“ ein gutes Leben für alle bereits heute ermöglichen würde. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist hievon ein wichtiger Teil.
– Die radikale Umorientierung gesellschaftlicher Wertvorstellung weg von der aufs Engste mit dem kapitalistischen Wachstumsimperativ verbundenen „imperialen Lebensweise“ hin zum bereits oben genannten „guten Leben für alle“. Diese Auseinandersetzung ist nicht nur, aber auch eine um die Wiederaneignung der Zeit (und zwar nicht nur quantitativ)
– Die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit für Menschen statt für das Kapital.
Nach dieser zugegeben etwas weitläufigen Abschweifung komme ich zurück zur selbst gestellten Eingangsfrage, nämlich warum ich „Europa Anders!“ unterstütze: Weil ich in all den oben genannten Punkten Anknüpfungspunkte sehe, die eine gesellschaftliche Bewegung der Befreiung unterstützen können. Europa Anders! wird diese Errungenschaften für uns nicht erkämpfen, „das müssen wir schon selber tun!“, aber wenn es auf der Wahlebene die bescheidene Möglichkeit gibt, Transformationsprozessen, die in die richtige Richtung gehen, einen Ausdruck zu geben, sollte die (radikale) Linke nicht Abseits stehen bleiben.
Martin Birkner ist politischer Theoretiker in Wien und im Südburgenland. Er ist verantwortlich für die Edition kritik & utopie im mandelbaum verlag und aktiv bei den Freund*innen der analyse & kritik Wien.Vor kurzem erschien sein Buch „Lob des Kommunismus 2.0“
Der vorliegende Text erscheint im Mai 2014 in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte #50